P R E S S E S P I E G E L


Ostseezeitung 15.03.2007

Verhungert auf der Theaterbühne

Erschreckend deutlich war das Stück „39 Kilo – Segen oder Fluch“ gestern im Wismarer Theater.
Alles wurde gezeigt – in der Sprache der Schüler und Jugendlichen.


39 Kilo im Theater Wismar
Sehr deutlich zeigten die Schauspieler, worum es im Stück ging:
Sonne (Katrin Klauschke), Miriam (Naomi Exner) und Peter (Daniel Heinz, v. l.).
Foto: N. Hollatz

Wismar. Schon die erste Szene brachte selbst die im Publikum zum Schweigen, die sonst immer quatschen und kichern. Vollkommen nackt und mit kahlem Kopf windet sich ein Mensch, ein Mädchen, auf der Bühne, spärlich beleuchtet, aber doch zu sehen. Eigentlich wollen die, die vor ihr stehen, den Notarzt rufen. „Sie stirbt“, so die Feststellung.

Szenenende und Bildwechsel. Geräusche hinter einer kleinen Trennwand, davor, wie sich zeigt, Mutter und Vater. Die Klospülung rauscht, immer wieder und immer wieder. „Miriam, was machst du?“, wird hinter die Wand gefragt.
„Ich mache mich schön.“ Und das ist der Anfang.

Mit einer Offenheit und Direktheit, die manch einen Lehrer im Publikum sicherlich erstmal erschreckt haben mag, agierten die vier Schauspieler aus Frankfurt auf der Bühne des Wismarer Theaters. Es wird nicht nur über Sex gesprochen. Nein, der Schlüpfer wird ausgezogen und dann geht’s schauspielerisch richtig zur Sache. Die Schüler im Publikum lachten und kicherten erwartungsgemäß – und hörten zu.

16 Jahre alt ist Miriam, die sich zu dick findet, die meint, dass ihr Peter sie zu dick findet. Ganz direkt fragt sie ihre beste Freundin Sonja (Katrin Klauschke): „Bringst du mir das Kotzen bei? Für deinen Busen und Po würde ich.“
Die Mädchen ziehen zusammen, gründen eine Wohngemeinschaft, in der Kalorienzählen, Essen, Erbrechen und psychischer Terror zum Alltag gehören. Drastische Bilder und Texte. Wenn Miriams Eltern sich mehr um den hohen Wasserverbrauch der Toilettenspülung und den sauren Geruch im Bad sorgen anstatt die Warnzeichen zu erkennen.

„Ich geh mir meinen Bauch wegkotzen“, so die spindeldürre Miriam, gespielt von Naomi Exner. „Dein Körper muss brennen und hungern und brennen“, treibt die „beste“ Freundin Sonne sie an. Und Miriam ist hungrig nach
Sonne, nach dem Gefühl, über sich selbst zu siegen und über die Verführung.

Die Pfauenfeder, die statt des Fingers in den Hals gesteckt wird, wird zum Sinnbild des Kreislaufes zwischen Fressattacken und Erbrechen. Auch Peter steigt mit ein in die WG, macht mit im perfiden Spiel, aus Liebe und
um seine Miriam zu retten.

Für Sonne kommt die Hilfe zu spät. Fast wirkt es, als sei sie nackt wie in der ersten Szene auf der Waage
gestorben, während Peter und Miriam streiten, wer den Notarzt alarmiert. Und die Frage, ob er sie hätte retten können, bleibt offen.

Das erklären die Schauspieler in der großen Gesprächsrunde nach dem Stück. Erst ab einem Gewicht unter 39 Kilo darf ein Mensch zwangsernährt werden. Und darauf hat Sonne geachtet.

Von NICOLE HOLLATZ

 

 


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